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Westmauer & Schamanen
Der Westblick auf die Mauer war im Alltagsleben des
Westberliners eine architektonische Realität. Sie gehörte zum Stadtbild
wie der unübersehbare Fernsehturm, der das Zentrum Berlins markierte.
West-Berlin – tief verankert in die politischen Verhältnisse der
Nachkriegszeit als amorphe Narbe zwischen den Systemblöcken. Von der DDR
als Stachel im Herzen des Sozialismus’ bezeichnet. Freier Übungsplatz für
Spione aus aller Welt und Zielscheibe aller taktischen Waffensysteme. Über
die Jahre war die Mauer der substanzielle Begriff der Teilung - nicht nur
Deutschlands, sondern der ganzen Welt - zwischen Ost und West geworden.
Die zu Stahlbeton erstarrte Teilung war Stein des Anstoßes und Wille zur
Durchdringung des Subjekts Mauer durch immer mehr Kreative, Aktivisten und
Künstler, die sich die Mauer zu eigen machten. Nichts blieb im
Erscheinungsbild der Westmauer von Bestand. Was aber wirklich blieb, war
ein Gesamtwerk, ein Konglomerat der kreativen Kräfte und eine Spur zur
Wirklichkeit, die am 9. November 1989 im Mauerfall kulminierte.
Schon sehr früh im Jahre 1964 schlägt Joseph
Beuys vor, die Berliner
Mauer zwecks besserer Proportion um 5 cm zu erhöhen. Durch diese
Betrachtungsweise wird die Mauer als Gesamtbauwerk geerdet und dadurch
spirituell als auch ästhetisiert aufgeladen.(1)
Nach Beuys ist die einzige
Kraft in der Welt die Kreativität. Mit dem Vorschlag Beuys beginnt ein
Druck auf die Mauer bis hin zum sozialen geistigen Körper der Vereinigung
und der physischen Auflösung des Mauerkörpers bis hin zu den
Mauerspechten, die sie zerstückeln. Beuys verfeinert den Gedanken der
Mauerüberwindung mit seinem zweiten Vorschlag, einen Erdwall an der Mauer
aufzuschütten, sodass Westberliner Hasen über die Mauer springen können.(2)
Der Hase ist in Beuys Werk ein spiritueller Mittler zwischen der
westlichen und der östlichen Wahrnehmung. Beuys: >> Entschärft
sofort die Mauer. Durch inneres Lachen. Vernichtet die Mauer. Man bleibt
nicht mehr an der physischen Mauer hängen. Es wird auf die geistige Mauer
hingelenkt, und diese zu überwinden, darauf kommt es ja wohl an … (1)
>> Hier tritt auch der Schamane auf, der eine andere
Wirklichkeit zur Durchdringung des Subjekts begeht.
In der Ausstellung Westmauer
& Schamanen wird mit einigen Beispielen künstlerischer Aktivitäten
die Wirklichkeit an der Mauer aus verschiedenen Zeitabschnitten gespiegelt
und ein Wirklichkeitsstrang in Beziehung zum Jetzt gesetzt und untersucht,
ob die vertikale Angriffsfläche der Westmauer und der Durchdringungswille
der kreativen, freien Kraft mit dem inneren Lachen das Verschwinden der
Mauer mit verursachte.
1983 veranstaltet die ‚Tödliche Doris’ (Wolfgang
Müller, Käthe Kruse und Nikolaus Untermöhlen) ein
Naturkatastrophenkonzert vor der Mauer. Das Konzert wird vom WDR im
Rockpalast ausgestrahlt. Der Rockpalast ist in den 80-iger Jahren das
bedeutendste Musikereignis in Deutschland und hat somit auch eine West-Ost
Ausstrahlung. Die Medien wollen die Mauer als populäre Szenerie im
Hintergrund. Unter der Bedingung, den Ort an der Mauer selbst bestimmen zu
können, sagt die Tödliche Doris zu. Sie benutzen einen riesigen vor der
Mauer liegenden Sandhügel hinter dem die Mauer verschwindet. Nur zwei
Bauwerke sind noch zu erkennen: das Eckgebäude Adalbertstraße im Osten
und die Thomaskirche im Westen. So wird optisch eine imaginäre
Vereinigung des westlichen mit dem östlichen Teil der Stadt erzeugt und
gleichzeitig eine Kritik an der Lust der Medien an der Katastrophe, der
Katastrophenmeldung und ihrer Inszenierung formuliert.
1984 schafft Christian
Hasucha den imaginären Ruhepol „Glück Winkel“ mittels einer 3D
Fotografie an der Alexandrinenstraße Ecke Sebastianstraße. Durch die 3D
- Aufnahme vor der Mauerecke im Mauerverlauf erzeugt er ein imaginäres
Graffiti als dreidimensional aufgeklappten Liegestuhl und schafft so einen
visuellen Ruheraum. Durch die Überlagerung zweier scheinbar gleicher
Mauerbilder bekommt die Mauer die Transparenz geistiger Durchdringbarkeit.
Hier beginnt wohl auch das innere Lachen über eine Mauer, die sich in 5
Jahren auflöst. Lange bevor es dazu kommt, plant Hasucha durch eine spezielle, grenzübergreifende
Methode von Westberliner Seite aus auf die Ostseite der Mauer „Guten
Morgen“ zu sprayen. Zur Realisierung kommt es jedoch nicht.
Am
03.11.1986 starten Wolfram
Hasch, Jürgen Onisseit, Thomas Onisseit,
Frank Schuster und Frank Willmann ihre „Aktion Weißer Strich.“ Mit
Gipsmasken getarnt und Farbrollen ziehen sie einen weißen Strich über
die Berliner Westmauerbemalungen, um das Gesamtbauwerk in seiner gesamten
Funktion wieder als substanzielle Mauer erfahrbar zu machen, nachdem es
sich in den Jahren zuvor als bunter Flickenteppich darbot. Geplant ist, in
mehreren Tagen die gesamte Mauerlänge rund um West-Berlin zu malern - fast
166 Kilometer. Am zweiten Tag der Aktion gerät Wolfram Hasch bei dem
Versuch, den weißen Strich mit der Farbrolle hinter dem Potsdamer Platz
am Lenné-Dreieck fortzuführen, in die Fänge der Grenzsicherheitsposten
und wird verhaftet. Zwei Monate nach seiner Festnahme wird er zu 20
Monaten Haft verurteilt und nach Bautzen gebracht. Nach der Verurteilung
wird Hasch von der Bundesregierung freigekauft.
Im Frühjahr 1987 läuft
Stefan Micheel mit einer Super 8mm Kamera die Mauer zwischen
Thomaskirche und Reichstag ab und nimmt über 15000 einzelne Frames zum
Sichtfeld Mauer in Schrittfolge auf. Es entsteht eine Momentaufnahme des
Gesamtabschnitts der Mauer. Auch der Anfang und Verlauf des weißen
Strichs von Wolfram Hasch ist unter neuen Übermalungen noch auszumachen.
Am Ende des Mauerlaufs wird die Kamera subtil über die Mauer an der
Mariannenstraße gehoben und auf Ostberliner Mauerseite zur weichen
Landung auf dem Todesstreifen abgeseilt. Nach dem Mauerfall nimmt Micheel
an dem gleichen Mauerabschnitt seine dokumentierende Filmarbeit wieder auf
- bis zur beschleunigten Auflösung des Bauwerks.
Schon 1987 tritt das Kunstduo p.t.t.red
(Stefan Micheel, Hans Winkler) mit seiner ersten Stadtrauminstallation
„Goldener Schnitt“ durch Berlin in Erscheinung und legt mit
Vergoldungen, die noch heute im Stadtraum auf der Achse zu finden sind,
eine ästhetische Teilung über die politische. Noch vor dem Mauerfall
plant p.t.t.red mit der ‚Rotverschiebung’ Anfang 1989 eine optische
Stadtrauminstallation, die die Mauer überwindet. Über die Achse
Alexanderplatz/Schäferberg, zwischen den beiden höchsten Türmen
Berlins, werden 11 rote Positionsblitzleuchten über 21 km Entfernung
geradlinig nach dem Prinzip der rechtlichen und technischen
Realisierbarkeit verteilt. 1990 wird die ‚Rotverschiebung’ realisiert.
Das rhythmische Aufflammen und Hin- und Herlaufen der Positionslampen
hinter der Mauer ist nur von der Höhe des Fernsehturms als öffentlicher
Aussichtsturm am Alexanderplatz sichtbar. Die Positionslampen markieren
parabildlich den Durchstoß der Achse über den Potsdamer Platz, wo Monate
später tatsächlich die erste Maueröffnung war und die Mauer zu
verschwinden begann.
2009 recherchiert Michael
Waitz ein Phantomgraffiti ‚48 Jahre Deutsche Teilung’ das so
schnell an dem ehemaligen Mauerverlauf im Stadtraum auftaucht wie es auch
wieder verschwindet. Es symbolisiert die Verhältnisse der Deutschen
zwischen Ost und West auf der feinen Linie, die sich nicht nur an den
verlorenen Grenzen ausmachen lässt, sondern vielmehr in den Köpfen und
dem vielleicht letzten Maueraktivisten.
st.eel
November 2009
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